I.B. Singer:
Der Baal Tschuwah
Im Jahre 1969 hatte ich zum ersten Mal Gelegenheit, die
Klagemauer zu sehen, über die ich schon so viel gehört hatte. Sie sah
etwas anders aus als die auf den Holzdeckel meines Gebetbuches
geschnitzte Klagemauer. Da waren Zypressen zu sehen, hier jedoch konnte
ich keinen einzigen Baum entdecken. Jüdische Soldaten bewachten den
Zugang. Es war hellichter Tag, und zahlreiche Juden verschiedenster Art
hatten sich hier eingefunden. Aschkenasim und Sefardim waren da.
Jugendliche mit schulterlangen Schläfenlocken, bekleidet mit Kniehosen,
rabbinischen Hüten und flachen Schuhen, unterhielten sich in ungarisch
gefärbtem Jiddisch miteinander. Umringt von Neugierigen, hielt ein weiß
gekleideter sefardischer Rabbiner in hebräischer Sprache eine Predigt
über den Messias. Manche Besucher sagten das Totengebet auf, manche
psalmodierten das Achtzehngebet. Einige schlangen sich Gebetsriemen um
den Arm, andere wiegten den Oberkörper, während sie Psalmen rezitierten.
Bettler baten mit ausgestreckter Hand um Almosen.
Manche feilschten sogar mit ihren
Wohltätern. Vierundzwanzig Stunden am Tag betrieb hier der Allmächtige
sein Geschäft.
Ich stand da und betrachtete die Mauer und
die benachbarten, von Arabern bewohnten Straßen. Die Häuser, so schien
es mir, hielten sich wie durch ein Wunder aufrecht, eins überragte das
andere, und alle reckten sich und drängelten, um eine bessere Aussicht
auf die Steinmauer zu haben, die als Erinnerung an den heiligen Tempel
stehengeblieben ist. Die Sonne brannte, er herrschte eine trockene
Hitze, und überall roch es nach Wüste, uralter Zerstörung und jüdischer
Ewigkeit.
Plötzlich kam ein schmächtiger Mann, der einen Kaftan und einen Samthut
trug, auf mich zu. Dort, wo sein Mantel auseinanderklaffte, war ein
breiter Gebetsschal zu sehen, dessen Fransen ihm fast bis zu den Knien
reichten. Er hatte einen weißlichen Bart, aber ein jugendliches Gesicht.
Seine Augen, so dunkel wie schwarze Kirschen, bezeugten, daß er ein
junger, früh ergrauter Mann war.
»Ich wußte, daß Sie hierherkommen würden«, sagte er.»Das haben Sie
gewußt?«
»Wenn man täglich hierherkommt, trifft man früher oder später jeden, den
man treffen möchte. Die Mauer ist wie ein Magnet, der jüdische Seelen
anzieht. Friede mit Euch!«
Er gab mir die Hand wie es Rabbis tun -
sanft, ohne jeden Druck.
»Ich weiß immer noch nicht, wer Sie sind«, sagte ich.
»Wie sollten Sie das auch wissen? Als Joseph von seinen Brüdern verkauft
wurde, sproßte ihm noch kein Bart deshalb erkannten sie ihn später nicht
wieder. Als Sie mich das letzte Mal sahen, war ich glattrasiert. Jetzt
bin ich gotdob ein Jude - wie es sich gehört.«
»Ein Büßer, nicht wahr?« Ich gebrauchte den Ausdruck ba'al t'schuwe.
»Ba'al t'schuwe bedeutet: einer, der zurückkehrt. Ich bin heimgekehrt.
Solange die Juden echte Juden gewesen sind, war nur ihr Leib im Exil,
nicht ihre Seele. Aber als die Juden ihr spirituelles Joch abwarfen, hat
sich der Leib emanzipiert und die Seele ist ins Exil gegangen. Ach, was
für ein Exil! Ein bitteres Exil!«
»Ich weiß immer noch nicht, wie Sie heißen.« »Zufälligerweise heiße ich
Joseph. Joseph Shapiro.« »Ein guter jüdischer Name. Wo sind wir uns
begegnet?«
»Wo denn nicht? Immer wenn Sie in New York einen
Vortrag hielten, war ich dort. Ich war ein begeisterter Anhänger von
Ihnen. Sie haben mich natürlich nicht gekannt. Jedesmal mußte ich mich
Ihnen vorstellen. Aber ich kannte Sie. Ich las alles, was Sie
geschrieben haben. Hier habe ich es aufgegeben, all diesen weltlichen
Kram zu lesen. Ab und zu werfe ich allerdings einen Blick in eine
jüdische Zeitung und stoße auf Ihren Namen. Hier bin ich - in meinem
Alter! - Jeschiwaschüler geworden. Wir studieren die Gemara, die Tosafot
und andere Kommentare. Erst seit ich die Tora studiere, weiß ich, was
mir all die Jahre gefehlt hat. Gelobt sei Gott, daß wir uns getroffen
haben! Wie lange bleiben Sie in Jerusalem? Wo wohnen Sie? Sie haben
einmal geschrieben, daß Sie gern Geschichten erzählt bekommen. Ich habe
eine Geschichte für Sie. Etwas Ungewöhnliches.«
Wir verabredeten, daß er am nächsten Tag zu
mir ins Hotel kommen sollte. Ich lud ihn zum Mittagessen ein, aber er
war der Meinung, daß die Hotelküchen sich nicht streng genug an die
religiösen Speisegebote hielten.
Tags darauf klopfte er Punkt drei Uhr an meine Tür. Ich hatte Obst und
Plätzchen für ihn bestellt. Er nahm auf dem Sofa Platz, ich setzte mich
auf einen Stuhl. Hier die Geschichte, die mir Joseph Shapiro erzählte
...
Singer, Isaac Bashevis
Der Büßer
Roman, übersetzt von Gertrud Baruch, 160 Seiten
ISBN 3-423-13220-5, Euro 7,50 [D] 7,80 [A], sFr 13,50
L
»Vielleicht
können Seelenqual und Desillusionierung Joseph Shapiros, des ›Büßers‹,
dazu beitragen, Gläubige wie auch Skeptiker zu einer Selbstprüfung zu
bewegen. Die Heilmittel, die er empfiehlt, werden nicht jedermanns
Wunden heilen können, aber die Art der Krankheit wird, so hoffe ich,
erkannt werden.« Isaac B. Singer
Isaac Bashevis Singer
Ein Roman über den Versuch eines
Menschen, der tief in der säkularen Welt verwurzelt war, neue Sicherheit
in Religion und Tradition zu finden.
Joseph Saphiro entkommt dem Holocaust, er emigriert in die USA und bringt
es dort zu Vermögen, Ehefrau und obligater Geliebten. Eines Tages
erkennt er, daß er das Leben in dieser ihm oberflächlich und zynisch
erscheinenden Luxuswelt nicht mehr aushält.
Er beschließt, New York zu verlassen, macht seinen gesamten Besitz zu Geld
und fährt nach Israel, um ein völlig neues und doch altes Leben zu
suchen.
Doch bald muss er erkennen, dass auch dort vielerorts die gleichen schalen
Werte gelten und er selbst trotz aller Vorsätze nicht gefeit ist gegen
Versuchungen, die sich ihm vor allem in Gestalt junger schöner Frauen
aufdrängen.
Trotzdem hält er an seinem Entschluss fest, zu werden, was die Großväter
gewesen waren, »ein Talmudjude, ein Jude der Gemara, des Midrasch, des
Raschi, des Sohar, des Anfangs aller Weisheit und der Zwei Tafeln des
Bundes«.
»Nach den vielen Predigten über die
Verderbtheit unserer Welt
doch einmal ein durchaus neuer, weil sehr alter Ton…
eine erbauliche Geschichte, gewiß, aber ohne alles Salbungsvolle«.
Werner Ross in ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹
hagalil.com / 23-03-05 |